Im Zug unterwegs
Es liegt Jahre zurück, dass mich eine in London ansässige Firma anfragte, ob ich einen deutschen Geschäftsmann mit Schweizer Gepflogenheiten vertraut machen könnte. Zu der Zeit publizierte ich regelmässig zu interkulturellen Fragen, deshalb kamen die auf mich. Ich sagte zu.
Der Deutsche hatte eine Fachhochschule absolviert (Betriebswirtschaft) und glaubte, was er dort gelernt hatte. Vor allem, dass es für jedes Problem eine Lösung gebe. Er erwartete sich von mir eine praktische Anleitung dazu, wie man mit Schweizern geschäftlich erfolgreich sein könnte. Er glaubte an Patentrezepte, ich hingegen war (und bin) der Meinung, dass es solche nicht gibt. Ich bemühte mich gleichwohl.
Ich weiss nicht mehr, was ich ihm alles erzählte, doch an einen praktischen Ratschlag erinnere ich mich. Fahre er in der Schweiz Zug, würde er feststellen, dass jeder (und jede) alleine im Abteil sitze und am liebsten für sich bleibe. Damals reisten noch nicht alle mit Stöpseln im Ohr oder guckten ständig auf ihr Handy, doch die abweisende Haltung war dieselbe. Er werde also, so erläuterte ich, den Eindruck haben, Schweizer (Frauen mit eingeschlossen) seien nicht an einem Gespräch interessiert. Ganz im Gegensatz zu wärmeren Weltgegenden, wo es so recht eigentlich unmöglich war, nicht miteinander ins Gespräch zu kommen, beim Schlangestehen, im Restaurant, wo auch immer. Doch natürlich das sei auch in der Schweiz möglich – sofern man selber die Initiative ergreife.
Meine Mutter hatte das getan, die Leute einfach angesprochen. Sie war neugierig, interessiert und Anteil nehmend gewesen. Als ich eines Sonntagnachmittags nach Hause kam, sass sie mit vier kleinen Mädchen am Esstisch, bei Tee und Kuchen. Sie habe sie auf der Strasse gesehen – die älteste war vierzehn, die jüngste sieben – und sie gefragt, woher sie seien beziehungsweise zu wem sie gehörten. Sie seien aus Armenien, sagte die älteste, wohnten in Glarus (mit dem Zug damals eine gute dreiviertel Stunde entfernt) und hätten einen Ausflug gemacht …
Dass meine Mutter im Zug unterwegs sein konnte, ohne jemanden kennen zu lernen, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Ich bin ihr diesbezüglich ähnlich, spreche häufig im Zug Mitreisende (männlich wie weiblich, alt und jung) an. Letzthin kam ich auf dem Weg von Sargans nach Zürich mit einer Opernsängerin, Mitte dreissig, aus Genf ins Gespräch, die eigentlich Archäologin hatte werden wollen (sie sei Indiana Jones begeistert) und auf der Rückfahrt mit einer 24jährigen Marketing Assistentin aus dem Engadin, die die Matur nachholen wollte, weil sie sich für Psychologie und Kriminologie interessierte, eine Kombination, die man nur in Bern studieren konnte, wie sie sagte.
Ein schlanker gut aussehender Mann, Mitte vierzig, mit indianischen Gesichtszügen, geht mir gerade durch den Kopf. Er war Lokomotivführer bei der Rhätischen Bahn. Drei Mal habe er es erlebt, dass zum Selbstmord Entschlossene auf den Schienen gelegen seien, das Schlimmste sei, das Splittern der Knochen zu hören. Einmal habe er es geschafft, die Lokomotive vor der auf den Schienen liegenden Frau zum Stehen zu bringen, die ihn, als er ausgestiegen und sich um sie bemüht hatte, zusammen geschrien habe.
Was seine liebste Strecke sei, hatte ich ihn gefragt. Im Winter, am frühen Morgen, vom Engadin runter nach Chur, wenn die Sonne herauskam und der Schnee unter dem Gewicht der Lokomotive knirschte.