In Valparaiso und anderswo

Aufzeichnungen

Monat: April, 2019

Im Zug unterwegs

Es liegt Jahre zurück, dass mich eine in London ansässige Firma anfragte, ob ich einen deutschen Geschäftsmann mit Schweizer Gepflogenheiten vertraut machen könnte.  Zu der Zeit publizierte ich regelmässig zu interkulturellen Fragen, deshalb kamen die auf mich. Ich sagte zu.

Der Deutsche hatte eine Fachhochschule absolviert (Betriebswirtschaft) und glaubte, was er dort gelernt hatte. Vor allem, dass es für jedes Problem eine Lösung gebe.  Er erwartete sich von mir eine praktische Anleitung dazu, wie man mit Schweizern geschäftlich erfolgreich sein könnte. Er glaubte an Patentrezepte, ich hingegen war (und bin) der Meinung, dass es solche nicht gibt. Ich bemühte mich gleichwohl.

Ich weiss nicht mehr, was ich ihm alles erzählte, doch an einen praktischen Ratschlag erinnere ich mich.  Fahre er in der Schweiz Zug, würde er feststellen, dass jeder (und jede) alleine im Abteil sitze und am liebsten für sich bleibe. Damals reisten noch nicht alle mit Stöpseln im Ohr oder guckten ständig auf ihr Handy, doch die abweisende Haltung war dieselbe. Er werde also, so erläuterte ich, den Eindruck haben, Schweizer (Frauen mit eingeschlossen) seien nicht an einem Gespräch interessiert. Ganz im Gegensatz zu wärmeren Weltgegenden, wo es so recht eigentlich unmöglich war, nicht miteinander ins Gespräch zu kommen, beim  Schlangestehen, im Restaurant, wo auch immer. Doch natürlich das sei auch in der Schweiz möglich – sofern man selber die Initiative ergreife.

Meine Mutter hatte das getan, die Leute einfach angesprochen. Sie war neugierig, interessiert und Anteil nehmend gewesen. Als ich eines Sonntagnachmittags nach Hause kam, sass sie mit vier kleinen Mädchen am Esstisch, bei Tee und Kuchen. Sie habe sie auf der Strasse gesehen – die älteste war vierzehn, die jüngste sieben – und sie gefragt, woher sie seien beziehungsweise zu wem sie gehörten. Sie seien aus Armenien, sagte die älteste, wohnten in Glarus (mit dem Zug damals eine gute dreiviertel Stunde entfernt) und hätten einen Ausflug gemacht …

Dass meine Mutter im Zug unterwegs sein konnte, ohne jemanden kennen zu lernen, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Ich bin ihr diesbezüglich ähnlich, spreche häufig im Zug Mitreisende (männlich wie weiblich, alt und jung) an. Letzthin kam ich auf dem Weg von Sargans nach Zürich mit einer Opernsängerin, Mitte dreissig, aus Genf ins Gespräch, die eigentlich Archäologin hatte werden wollen (sie sei Indiana Jones begeistert) und auf der Rückfahrt mit einer 24jährigen Marketing Assistentin aus dem Engadin, die die Matur nachholen wollte, weil sie sich für Psychologie und Kriminologie interessierte, eine Kombination, die man nur in Bern studieren konnte, wie sie sagte.

Ein schlanker gut aussehender Mann, Mitte vierzig, mit indianischen Gesichtszügen,  geht mir gerade durch den Kopf. Er war Lokomotivführer bei der Rhätischen Bahn. Drei Mal habe er es erlebt, dass zum Selbstmord Entschlossene auf den Schienen gelegen seien, das Schlimmste sei, das Splittern der Knochen zu hören. Einmal habe er es geschafft, die Lokomotive vor der auf den Schienen liegenden Frau zum Stehen zu bringen, die ihn, als er ausgestiegen und sich um sie bemüht hatte, zusammen geschrien habe.

Was seine liebste Strecke sei, hatte ich ihn gefragt. Im Winter, am frühen Morgen, vom Engadin runter nach Chur, wenn die Sonne herauskam und der Schnee unter dem Gewicht der Lokomotive knirschte.

Ostertage

Mich einhöhlen, trotz der gelegentlichen Sonnenstrahlen und der angenehmen Temperaturen die Wohnung nicht verlassen, stattdessen in Büchern lesend, vor den Bücherregalen stehend, mal dies, mal jenes schon lange vergessene Exemplar zur Hand nehmend, dabei verblüfft konstatierend, wie viele Bücher ich nur gekauft und nie gelesen habe. Oder höchstens hinein gelesen.

Es gibt auch die, welche ich ganz offensichtlich – angestrichene Sätze sind mir dafür Beleg – gelesen, doch an die ich keine oder kaum Erinnerung habe. Meine Lektüre von Helen Humphreys Die Abbildung, einem Roman über Julia Margaret Cameron, der englischen Fotografin aus der viktorianischen Zeit, mit der ich mich einst, 19 Jahre ist das nun her, eingehend befasst habe, kam auf Seite 87 (mein Buchzettel) zum Stillstand; Jed Rubenfelds The Interpretation of Murder habe ich hingegen fast ausgelesen.

„Annie ist nicht sicher, ob sie mit der ganzen Leserei etwas ausschaltet oder zurückbringt“, habe ich mir bei Helen Humphreys unter anderem angestrichen. Ein Satz, der mir augenblicklich George Steiner in Erinnerung ruft, der sich in einem Gespräch mit Laure Adler gefragt hat, ob die Geisteswissenschaften unsere moralische Sensibilität eher schwächen, statt sie zu schärfen? „Sie halten uns vom Leben fern, sie vermitteln uns eine solch grosse fiktionale Intensität, dass die Realität daneben blass erscheint.“

Beim Durchblättern von Rubinsteins Roman hatten vor allem diese Sätze meine Aufmerksamkeit gefangen: „Men care most about that which is least real. Medicine, to me, stood for reality. Nothing I did before medical school seems real any longer; it was all play.“

Der Grund meines Schreibens: Die Realität wirklich erscheinen zu lassen. Eugène Ionesco fällt mir ein, eine Stelle in seinem Tagebuch/Journal en miettes, die ich auch sofort wiederfinde: „Ich habe immer versucht zu leben, doch ich bin am Leben vorbeigegangen. Ich glaube, das ist etwas, was die meisten Menschen empfinden.“

Sozialer Kapitalismus

Ich halte den Kapitalismus für ein Grundübel und den Versuch, ihn zu humanisieren beziehungsweise mit einem menschlichen Antlitz auszustatten oder sozial zu machen, für einen Irrweg. Weil meines Erachtens der Wettbewerb, die Grundlage des Kapitalismus, das Problem und nicht, wie seine Befürworter meinen, die Lösung ist. Als ich mich letzthin einem Bekannten gegenüber so äusserte, wurde dieser, ein Verfechter eines (in seinen Worten) liberalen Kapitalismus (was auch immer das sein mag) ungehalten und meinte, es sei immer noch das beste der bekannten Systeme und hätte doch auch gute Resultate geliefert.  Und überhaupt liesse sich Wettbewerb doch auch spielerisch sehen. Ich wiederum vertrat demgegenüber die Auffassung, dass ein System, das Gewinner und Verlierer produziere, von diesen kaum als spielerisch erlebt werde und an sich von Übel sei.  Kennst Du denn ein besseres? fragte der zunehmend wütender werdende Bekannte. Schau Dir doch mal Vogelschwärme an, da gibt es keine Konkurrenz, und auch keinen Anführer, da fliegen alle aufeinander abgestimmt. Diese Art von Zusammengehen ziehe ich vor.

Wieso also sollte jemand, dem eine solche Auffassung eigen ist, ein Buch mit dem Titel Sozialer Kapitalismus. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft (Siedler Verlag, München 2019) lesen? Weil ich den Autor schätze. Der 1949 in Sheffield geborene Paul Collier hat unter anderem Exodus (2014) verfasst, eines der gescheitesten Bücher zum Thema Migration, das ich kenne. Und weil seine Ideen wohl eine realistischere Chance haben, umgesetzt zu werden als meine.

„Kapitalistische Gesellschaften müssen nicht nur Wohlstand schaffen, sondern auch ethischen Massstäben genügen.“ Das klingt sehr nach Sonntagspredigt, doch natürlich ist es mehr, denn Verhaltensexperimente haben gezeigt, „dass unser Verhalten nicht nur von ‚Bedürfnissen‘, sondern auch von ‚Sollensforderungen‘ beeinflusst wird.“ Gibt es demnach den Homo oeconomicus, diesen sich allein am Eigennutz, der Habgier und der Faulheit orientierenden Menschen, „die Grundlage der Wirtschaftstheorie des menschlichen Verhaltens“ gar nicht? Natürlich nicht, der Mensch ist um einiges komplexer. So hat etwa der Moralpsychologe (was es nicht alles gibt!) Jonathan Haidt sechs Werte ausgemacht, die fast alle Menschen hochschätzen: „Loyalität, Fairness, Freiheit, Hierarchie, Fürsorge und Reinheit (gemeint ist die Unantastbarkeit von Dingen auch jenseits eines religiösen Zusammenhangs).“ Das Problem ist nur, dass uns ständig eingeredet wird (und wir uns selber ständig einreden), dass sich jeder selbst der Nächste sei. Das ist zwar hanebüchener Unsinn (für jede Mutter kommt ihr Kind zuerst), doch leider glauben ihn die meisten und richten sich danach aus. Am Rande: Dieser „Ich zuerst Schwachsinn“ scheint mir einer der Gründe, weshalb sich derart viele Menschen mit dem gegenwärtigen, völlig empathielosen amerikanischen Präsidenten identifizieren.

Der moderne Kapitalismus ist fixiert auf Profitmaximierung, was die öffentliche Meinung und die heutige Wissenschaft zwar kritisiert, doch die Unternehmenskulturen wenig beeindruckt. Schaut man sich das wirtschaftliche Führungspersonal an, wird sich das kaum ändern, jedenfalls nicht freiwillig. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, den jungen Gebildeten und den Geringqualifizierten jedoch immer grösser wird, ist ein gewaltiger Knall wohl unausbleiblich.

Was können wir dagegen tun? Sich zuallererst von den Ideologien der Rechten (der Markt regelt alles) und der Linken (staatliche Kontrolle ist die Lösung) zu befreien, meint Paul Collier, und sich für einen neuen Ansatzpunkt entscheiden: Die Rolle von Grosskonzernen in der Gesellschaft gründlich zu durchdenken, denn deren Leitungsgremien treffen Entscheide, die oft für die Gesamtgesellschaft entscheidend sind. Zudem: Gibt es neben der Regulierung und dem öffentlichen Eigentum noch andere Strategien? Zu denken wäre an: Besteuerung. Das öffentliche Interesse in den Leitungsgremien repräsentieren. Das öffentliche Interesse überwachen.

Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft ist ein gut lesbares, aufklärendes, pragmatisches und auch erfreulich persönliches Werk. Besonders berührt hat mich die Schilderung die Kluft betreffend, „die sich im Hinblick auf Qualifikationen, innere Verfasstheit und generell die Haltung zum Leben zwischen erfolgreichen Familien und denen auftut, die in Armut gerieten“ und die er aus eigener Erfahrung kennt. „Im Alter von 14 Jahren waren meine Cousine und ich gleichauf: am selben Tag geboren, die Kinder ungebildeter Eltern, die die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden hatten. Doch warf sie der frühe Tod ihres Vaters aus der Bahn; dieser Autoritätsfigur beraubt, wurde sie schon im Teenageralter Mutter, mit allem, was dies an Rückschlägen und Demütigungen mit sich brachte. Ich durchlief derweilen den höheren Bildungsweg und ergatterte ein Stipendium in Oxford. Von dort führte mich der akademische Karriereweg auf Lehrstühle in Oxford, Harvard und Paris …“. Kein Wunder, hat er keine grundsätzliche Mühe mit dem herrschenden Wettbewerbssystem – ihm ist es darin gut gegangen.

„In einer weiteren Wendung der Spirale auseinanderstrebender Lebensgeschicke wurden die minderjährigen Enkelkinder meiner Cousine von dem paternalistischen Staat in ‚Obhut‘ genommen (ein Euphemismus Orwell’schen Ausmasses). Angesichts der gegenwärtigen Normen der neuen britischen Bildungselite sahen wir uns keinem sozialen Druck ausgesetzt, sie zu uns zu nehmen …“. Sie tun es dann trotzdem. Die Bedeutung familiärer Verpflichtungen haben die Colliers in Afrika erfahren. Sie sollten auch in den westlichen Gesellschaften die Norm sein. Dann könnten die gemeinsamen Werte, von denen Politiker so gerne reden, eine Realität werden.