In Lyon und Montpellier

von hansdurrer

Im Zug nach Genf geht mir Laurence durch den Kopf, die vor zwei Jahren im Alter von 56 gestorben ist und die ich während vieler Jahre in Choulex bei Genf regelmässig besucht hatte. Ob ihre Mutter, die auch dort wohnte und mit der ich mich immer gerne ausgetauscht habe, noch lebt? Meine Google-Suche listet auch ihre Todesanzeige, sie ist vor einem Jahr im Alter von 90 gestorben. In Genf regnet es, der Himmel ist bewölkt, meine Stimmung auch. Es ist alles so traurig, pflegte mein lieber Freund Wamse bei unseren Telefonaten zu sagen.

Laurence habe ich zum letzten Mal im Herbst 2019 in Zürich getroffen, als sie im Literaturhaus aus ihrem neuesten Buch las und gefragt wurde, ob was sie beschreibe, auch so vorgefallen sei? Natürlich, erwiderte sie, auch wenn ihr klar sei, dass die von ihr geschilderte Absurdität unwahrscheinlich sei.

In Lyon. Vom Bahnhof zu meinem Hotel sei es zu Fuss gut vierzig Minuten, sagt Google. Die Leute, alt und jung, die ich unterwegs nach dem Weg frage, sind ausnahmslos freundlich. Dabei merke ich, dass wer mit einem Ziel durch die Stadt geht, nichts sieht. Erst als ich im Hotel eingecheckt, Kamera-bewehrt und offen für Fotomotive durch die Gegend spaziere, sehe ich etwas.

Am nächsten Tag, auf halber Strecke zum Bahnhof, vergewissere ich mich bei einer Schwarzen so um die 40, ob ich immer noch auf dem richtigen Weg bin. Zu welchem Bahnhof ich wolle? Part Dieu. Da solle ich die Metro nehmen, zu Fuss sei das viel zu weit. Höchstens eine halbe Stunde, sage ich. Viel zu weit, insistiert sie. Hält sie mich für zu alt, zu unfit für eine solche Stecke? Oder würde einfach sie selber eine solche Strecke nicht laufen? Ich laufe und entdecke Blumen am Strassenrand, die mir sonst entgangen wären.

Am Bahnhof warten zwei Afrikanerinnen um die 50/60 neben mir, goldene Ohrringe, Winterkleidung, unaufhörlich laut schwatzend. Als sie sich erheben und davongehen, verabschiedet sich die eine lachend, sie hat offenbar bemerkt, dass ich mich amüsiert habe.

So viele Leute am Bahnhof; die Zeiten in denen ich das Reisen als Abenteuer und mich selbst als Abenteurer empfand, sind passé …

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Montpellier. C’est vraiment mal indiqué, sagt der Mann, den ich nach dem Hotel frage, tout le monde demande. Die Sonne scheint, es hat um die 20 Grad

„Mein“ Hotelzimmer hat zwar keinen Tisch oder sonst eine Ablage, dafür finden sich an den Wänden alte Schallplattencover und auf einem Gestell Bücher aufgereiht, darunter auch eine Biografie von Anne Sinclair, in die ich mich sofort vertiefe, die jedoch schon bald von der über Johnny Hallyday abgelöst und dann von einem Krimi verdrängt wird. Wunderbar, in Büchern zu blättern, auf die man selber nie gekommen wäre.

Am Nebentisch ein Mann, der während er isst, auf Spanisch telefoniert; seine Partnerin ist mit ihrem Handy beschäftigt.

Die Rue David Néel und die Rue Isabelle Eberhardt führen durch moderne Steinwüsten.

Zum Strand? Tram Nummer 3 ab Bahnhof Saint Roch, sagt man mir an der Rezeption. Mit der Nummer 3 zum Strand? Geht heute nicht, il y a une manifestation, informiert mich eine Verkehrspolizistin. Und so laufe ich durch die Strassen, mache Fotos, und finde alles Französische wie immer très sympa.

Die werden ja wohl nicht den ganzen Tag protestieren, denkt es so in mir, und so fahre ich dann am Nachmittag doch noch mit der Tram zum Meer. Und so sehe ich wieder einmal das Mittelmeer. Genauer: ich sehe viel Wasser, von dem ich weiss, dass man es Mittelmeer nennt.

Was fällt mir auf in Montpellier? Spontan: Die vielen Schwarzen. Und die freundlichen Leute.

Er staune, dass er überhaupt seinen Arm bewegen könne, las ich letzthin bei einem Zen-Meister. Seither taucht dieser Satz immer mal wieder in meinem Kopf auf. Und hilft mir, gegen den von den Medien verbreiteten Irrsinn, der darin besteht, Durchgeknallten eine Plattform zu geben, worauf die geneigte Leserschaft, den eigenen Irrsinn normal findet, nicht durchzudrehen.

Nur ältere Leute schauen beim Gehen nicht ständig aufs Handy. In einer Talkshow höre ich zum ersten Mal von einem anderen (einem israelisch-arabischen Muslim) als von mir, dass es bei Israel/Palästina um einem Kulturkrieg gehe.

Auch der Mann, der mit seinem Hund auf der Strasse lebt und mir freundlich Auskunft gibt, ist ständig mit seinem Handy beschäftigt.

Zu den Dingen, die ich mir im Ausland gönne, gehören McDonalds und der Besuch von Nagelstudios, deren Preise (bis auf eines, das jedoch ausgebucht war) allerdings Schweizer Niveau entsprechen, so dass ich es gelassen habe. Beim Abklappern der diversen Studios kriege ich ein Montpellier zu sehen, das mich (abgesehen von den Einkaufszentren, die auf der ganzen Welt gleich aussehen und die Uniformität des Menschen bezeugen) baulich und ästhetisch sehr anspricht. Sehr viel Grün, majestätische Architektur, enge Gassen, wunderschöne Alleen.

Am Bahnhof eine Pro-Palästina Demo, eine bunte Mischung aus alt und jung wie einst bei Ostermärschen, laut ist vor allem der Einpeitscher. Heutzutage finde ich das alles vor allem peinlich, naiv und verblendet.

Es könne morgen am Gare du Sud, von wo ich nach Lyon fahre, zu Verkehrsproblemen kommen, warnt mich die SNCF per SMS. Mir ist nicht klar, was ich da machen soll/kann.

Der Gare du Sud befindet sich an der Peripherie von Montpellier, erreichbar ist er mit Tram und Bus. Ein modernes Gebäude, das an einen Flughafen erinnert. Viele Leute warten, ausnahmslos alle starren auf ihr Handy und so tue ich es selber für einmal nicht, sitze einfach da, gucke vor mich hin und um mich rum. Kopfkino.

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Zurück in Lyon. Die Ohrstöpsel, die im Hotel bereitliegen, finde ich wenig beruhigend. Kurz darauf rattert ein Zug durchs Zimmer.

Frühmorgens auf dem Weg zur Boulangerie, die Sonne scheint durch die von Baumkronen bedeckte Avenue. Wie in Mendoza, denkt es in mir. Wieder einmal das Gefühl, dass alles gleichzeitig geschieht.