In Valparaiso und anderswo

Aufzeichnungen

Monat: Oktober, 2021

Inszenierungen für die Kamera

Fotos sind Dokumente. Sie zeigen uns, wie etwas einmal gewesen ist, sie helfen uns, uns zu erinnern, sie dienen uns als Nachweise und Belege. Und weil dem so ist, wollen wir sie echt und wollen wir sie wahr.

Zugegeben, das wollen nicht alle. Laura Horn, zum Beispiel, eine 50jährige Notfall-Koordinatorin bei der Polizei in Rochester, New York, hatte nach ihrer Scheidung die Freude an den zahlreichen Urlaubsfotos von Kreuzfahrten und aus der Karibik, auf denen immer auch, neben anderen Mitreisenden, ihr Ex zu sehen war, verloren. Da sie die Bilder jedoch nicht fort werfen wollte, tilgte sie ganz einfach den Ex von den Bildern – mit Photoshop. Natürlich wisse sie, sagte Frau Horn der New York Times, dass ihr Mann auf diesen Reisen mit dabei gewesen sei, doch ohne ihn auf den Bildern, könne sie sich diese unbeschwerter anschauen und sich an ihre positiven Erinnerungen halten.

Für alle diejenigen, die mit ihren Fotos nicht (oder nicht mehr) zufrieden sind, ist Photoshop in der Tat ein Geschenk des Himmels. Noch nie war es so einfach, Gott zu spielen, und Laura Horn ist beileibe nicht die Einzige, die diese Möglichkeiten genutzt hat. Doch was im Privaten einfach nur Selbstbetrug, ist bei der Inszenierung der öffentlichen Wahrnehmung problematisch. Wird dem französischen Präsidenten Sarkosy auf einem Urlaubsbild, das ihn im Sommer 2007 in New Hampshire beim Paddeln zeigt, eine Speckrolle wegretouchiert, mag man ja noch die Schultern zucken, doch dass (so geschehen im August 2006) ein freier Mitarbeiter der Agentur Reuters, die aus den Trümmern aufsteigenden Rauschschwaden im von israelischen Kampfbombern bombardierten Beirut verdunkelt, damit sie den Eindruck von einer brennenden Stadt vermittelten, ist nicht hinnehmbar. Genau so wenig wie das Foto vom Juli 2008, das vier iranische Raketen zeigte, von denen eine offensichtlich digital hinzugefügt worden ist.

An Fotos „herumzudoktern“ ist nichts Neues, das gibt es, seit es die Fotografie gibt. Aufhellen, Nachdunkeln, eine Horizontale in eine Vertikale umwandeln etc, sei es in der Dunkelkammer oder am Computer – welcher Foto-Redakteur hätte dies oder Ähnliches nicht schon mal gemacht? Und überhaupt: was soll denn schon dabei sein? Nun ja, es kommt ganz drauf an, welche Fotografie wir meinen. Von der Werbefotografie erwartet niemand, dass sie aufrichtig ist (es soll jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass ‚aufrichtiges Informieren‘ Bestandteil erfolgreichen Werbens sein kann), von Nachrichtenbildern hingegen erwarten wir, dass sie uns die Wirklichkeit so präsentieren, wie sie der Fotograf vor Ort gesehen und mit seiner Kamera eingefangen hat.

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Dass Fotos die Wirklichkeit abbilden, sei eine Illusion, meint Pedro Meyer, der Herausgeber der Online Foto-Zeitschrift Zone Zero. Einmal aus den allseits bekannten Gründen, der Wahl des Objektivs, des Films etc., dann aber auch, weil es zwischen der Fotografie und anderen Arten dokumentarischen Schaffens Parallelen gebe, die oftmals übersehen würden. So sei etwa der Journalist keine simple Kopiermaschine, er reproduziere nicht gedankenlos, was sich vor seinen Augen abspiele, sondern er sammle Informationen und stelle dann, was er in Erfahrung gebracht, so zusammen, dass akkurat wiedergeben werde, was sich vor Ort abgespielt habe. Ein Dokumentarfilmer tue genau dasselbe, auch er mache Aufnahmen mit der Vorstellung im Kopf, wie er diese anschliessend zusammenfügen wolle.

Jeder Schritt, meint der frühere Fotojournalist Jeff Share auf http://www.medialit.org, den ein Fotograf mache, also was, wann, wo, warum und wie aufgezeichnet werde, sei subjektiv und ein Foto deswegen immer eine dekontextualisierte Wiedergabe der Realität sei, festgehalten von einem Menschen, der bewusste oder möglicherweise unbewusste Entscheidungen fällt, die von seiner kulturellen Herkunft, seinen Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen geprägt sind. Joan Fontcuberta, der Herausgeber von Photovision, geht noch einen Schritt weiter: er hält den Begriff „manipulierte Fotografie“ für eine Tautologie, da jede Foto manipuliert sei.

Wer so argumentiert, verkennt das Wesen der Manipulation, bei der es um eine bewusste Irreführung geht. Er verkennt zudem, was wir von der Fotografie (nein, nicht von der, die sich als Kunst versteht) wollen: die Realität, so wie sie sich unseren Augen präsentiert, einfangen; den Augenblick festhalten; die Zeit zum Stillstand bringen. Wir wollen wissen, was und wie etwas gewesen, wir wollen eine Vergangenheit; uns interessiert dabei die Vorstellungswelt der Fotografen weit weniger als wie sich die Dinge vor dem Kameraauge abgespielt haben.

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Die Gegenwart einer Kamera verändert jedes Geschehen.

Wissen wir, dass unser Verhalten aufgezeichnet wird, geben wir uns Mühe, möglichst gut rüber zu kommen: wir setzen uns in Szene, geben uns locker oder ernst, inszenieren uns nachdenklich oder teilnehmend, je nachdem was uns gerade vorteilhaft scheint – und manchmal verdrücken wir uns auch.

Diejenigen, die sich von Berufs wegen darzustellen haben, verlassen sich für ihre öffentliche Inszenierung häufig auf Berater, die ihren Schützlingen weltweit offenbar dasselbe raten. Politiker der sogenannt wichtigen Sorte jedenfalls strahlen und winken immerzu, wenn sie aus Flugzeugen oder Limousinen steigen, nicken und lachen, Daumen nach oben gebeugt, imaginären Bekannten oder ein paar Fotografen zu. Sie werden wissen, wie Susan Sontag im Dezember 2002 in ihrem Beitrag „Looking at war“ für den New Yorker geschrieben hat, dass wir uns – wenn wir selber nicht dabei gewesen, uns niemand den Kontext erklärt, wir nur Fotos gesehen – später einmal nur noch an die Bilder erinnern werden.

Treffend schilderte Spiegel Online (unter dem schönen Titel: „Winken ohne Publikum“) die Ankunft von George Bush Junior und Frau im Juli 2007 zum Staatsbesuch in Deutschland, die wir allerdings nicht so zu sehen gekriegt haben „Um 21.30 Uhr, eine Viertelstunde früher als geplant, setzt die Air Force One auf der Rollbahn in Rostock-Laage auf. Um 21.35 Uhr geht die Tür auf, noch einmal zwei Minuten dauert es, bis der Kopf des US-Präsidenten zu sehen ist. Neben George W. Bush steht seine Frau Laura, beide winken. Es gibt niemanden, der zurückwinkt. Der Flughafen ist weiträumig abgesperrt, die einzigen Zuschauer sind die Agenten des Secret Service und die Journalisten auf dem eigens errichteten Pressepodest.“

Wir haben uns daran gewöhnt, wir wissen, dass das Ganze geheuchelt ist und scheren uns in aller Regel nicht weiter drum, ausser es kommt einer und belegt, wie wir zum Narren gehalten werden. Dann fühlen wir uns betrogen, wie etwa bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking, als die Kameras ein hübsches, singendes Mädchen zeigten, das jedoch gar nicht selbst sang, sondern sich der Stimme eines anderen, weniger hübschen, bediente – so angeordnet von den politisch Verantwortlichen.

Wir wissen (und akzeptieren scheinbar), dass die wichtigen Dinge hinter geschlossenen Türen stattfinden und staunen, wenn gelegentlich durchsickert, wie es da zu und her geht. Wie konditioniert wir bereits sind, merken wir vor allem dann am besten, wenn uns mal eine Nachricht ungefiltert erreicht und wir plötzlich aufmerken. Wie im Juli 2006 in St. Petersburg, als ein Mikrofon aufschnappte wie Bush mit Blair redet: “Yo, Blair, how are ya doin’?” Also auch nicht viel anders als die jungen Leute mit ihren Handys im Zug.

Weil wir diese Realität nicht ertragen, haben wir uns eine eigene Wirklichkeit erfunden: die Wirklichkeit der öffentlichen Inszenierung. Und diese soll, um auch wirklich „wirklich“ zu werden, im Bild festgehalten werden, denn, so Susan Sontag in ihrem Essay über die Bilder aus Abu Ghraib: „Leben heisst fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen.“ Nicht nur, nein, aber auch.

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in Hollywood, couples who have chemistry on screen often don’t like each other off screen, and ones who are involved off screen often don’t have any chemistry on screen.
Maureen Dowd: There will be blood, The New York Times, 3 Feb 2008

Die Welt der Fotos ist eine Welt des Scheins und für diese ist kennzeichnend wie etwas wirkt und nicht wie etwas ist. Auf den Punkt gebracht hat es der legendäre Hollywood-Studioboss Samuel Goldwin: „The most important thing in acting is honesty. Once you’ve learned to fake that, you’re in.“

Wir alle wissen: es gibt fotogene und weniger fotogene Menschen. Das heisst jedoch nicht, dass die Kamera lügt, das heisst nur, dass das, was die Kamera wahrnimmt und was unsere Augen wahrnehmen, nicht dasselbe ist. Auch „eine Kurzzeitbelichtung von 1/8.000 Sekunde, dass man die Schweißtropfen des Sportlers nur so spritzen sieht“, so Julian Rossig in seinem Buch „Fotojournalismus“, schafft das menschliche Auge nicht; andererseits bildet die Kamera die Welt nur zweidimensional ab, auch wenn die Person hinter der Kamera doch alles gerade noch so schön dreidimensional gesehen hat.

Auch wenn uns klar ist, dass Fotos uns die Dinge oftmals nicht so zeigen, wie unsere Augen sie wahrnehmen – getäuscht und angelogen werden wollen wir nicht. Das Sich-In-Szene-Setzen für die Kamera ist dabei nicht das Problem (und uns eh zur zweiten Natur geworden), fragwürdig ist die bewusste Irreführung, der Vertrauensmissbrauch – vor oder hinter der Kamera.

Nachdem Saddam Hussein am 13. Dezember 2003 festgenommen worden war, stellte das amerikanische Kriegsministerium (das, ganz im Sinne von Orwell, Ministerium für Verteidigung, genannt wird) ein Video her, das den Gefangenen als Kriegstrophäe vorführte (was gemäss den zahnlosen Genfer Konventionen untersagt ist): Ein Mann mit Chirurgen-Handschuhen (ist es ein Arzt? – wir wissen es nicht; das Bild kann dies nicht zeigen) der Saddam durch die Haare fährt (ihn entlaust? – auch dies eine Zuschreibung, die ein Bild nicht zeigen kann) und anschliessend seinen Rachen inspiziert. Eine Inszenierung allein für die Kamera – wer solche Bilder verbreitet, betreibt keinen Journalismus, sondern PRopaganda.

Übrigens: „Der von der US-amerikanischen Führung verbreitete Hergang der Festnahme und der konkrete Zeitpunkt wurde durch den Anwalt Saddam Husseins sowie ihn selbst bestritten. Der ehemalige US-Soldat Nadim Abou Rabeh sagte im März 2005, dass die Szene mit dem so genannten Erdloch gestellt worden sei, Saddam Hussein in einem Haus gelebt habe und die US-Soldaten bei der Festnahme auf Widerstand gestoßen seien“, schreibt Wikipedia

Nicht alle Inszenierungen für die Kamera (und für Journalisten, die den Beruf verfehlt haben) sind so zynisch propagandistisch wie das Posieren von George Bush Junior im Dezember 2003 mit einem Plastik-Thanksgiving-Truthahn bei den amerikanischen Truppen in Irak, doch schamlos sind viele. So berichtete die Neue Zürcher Zeitung im August 2006: „Ein Bild aus Beirut zeigt eine alte Frau, klagend, vor den Trümmern ihres soeben zerstörten Hauses, einmal am 22. Juli, ein weiteres Mal am 5. August. Ein und derselbe Zivilschutz-Helfer wurde bei der Rettung von Toten und Verletzten fotografiert, einmal in Kafr Kana, ein anderes Mal in Tyrus. «Frische» Zerstörungen wurden den Journalisten präsentiert, an verschiedenen Tagen, aber am gleichen Ort.“

Das erste Opfer im Krieg sei die Wahrheit, heisst es bekanntlich. Damit gemeint ist wohl, dass wir der Kriegspropaganda, dem Schönreden, dem Jargon der kriegsführenden Parteien misstrauen sollten. Sicher zu Recht. Andrerseits suggeriert eine solche Behauptung aber eben auch, dass der Mensch in Friedenszeiten ungeheuer wahrheitsliebend sei – und das darf füglich bezweifelt werden. Wichtiger als die Wahrheitsliebe ist in unserer von den Medien entscheidend mitbeherrschten Welt wie wir medial rüberkommen. Versteht es eine Kandidatin (es kann auch ein Mann sein) für ein politisches Amt ihren (von einem Team geschriebenen) Text fehlerfrei vom Teleprompter abzulesen, werden ihr deswegen heutzutage (jedenfalls in den USA) bereits Führungseigenschaften zugeschrieben. Und genau darin liegt das Problem: was wir Fotos zuschreiben, können sie gar nicht zeigen.

Wenn, zum Beispiel, George Bush (der Mann ist ja auch ein Mediengeschenk – was man an dem nicht alles abhandeln kann) mit einem Buch in der Hand abgebildet wird, zeigt dieses Bild keineswegs, dass Herr Bush des Lesens mächtig ist, oder Bücher liest, oder etwa den Text vor ihm versteht. Das Bild zeigt nichts weiter als Herrn Bush mit einem Buch. Alles andere ist Zuschreibung. Mit andern Worten: wir sehen in einem Bild, was wir sehen wollen, bewusst oder unbewusst. Dies ist der Grund, weshalb Waschmittelwerbung betrieben wird, obwohl wir doch alle wissen, dass es keinen wirklichen Unterschied macht, welches Waschmittel wir benutzen. Trotzdem werden uns laufend Bilder von jungen, lachenden Frauen mit fröhlichen Babys vor in der Sonne strahlender Wäsche gezeigt, denn die Werber und all die andern PRopagandisten rechnen damit, dass unser Wissen um diese Irreführung uns wenig hilft und dass wir Opfer unserer Gefühle bleiben.

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Was Fotos zeigen, ist gar nicht so wichtig. Ungleich wichtiger ist, was wir in sie hineinlesen – und dies hängt davon ab, was wir wissen. Und ganz entscheidend davon, wie viel wir darüber wissen, wie ein Foto entstanden ist. Wer die Geschichte, wie es zu dem Bild gekommen ist, nicht kennt, wird immer nur das sehen, was er ins Bild hineinliest, meist also nichts anderes als seine Vorurteile.

Der mexikanische Fotojournalist (und „Mother Jones Award“-Preisträger) Francisco Mata Rosas hält die traditionell im Fotojournalismus übliche Sicht (wer in die Situation eingreift, manipuliert die Realität und damit die Information) für problematisch, weil man dabei davon ausgehe, man könne fotografieren, ohne ins Geschehen einzugreifen. Er argumentiert: Ob man für ein Bild posiere oder nicht, sei dasselbe wie der Entscheid, ob man Blitz oder natürliches Licht verwenden wolle – es sei dies eine Option, die man haben und von der man gekonnt Gebrauch machen sollte, denn eine Foto gut zu inszenieren, sei schwieriger als eine direkte Foto zu machen.

Der Darmstädter Fotograf Lukas Einsele sieht das auch so. Er fotografiert mit einer Grossformatkamera, dabei ist die Inszenierung unausweichlich: „… hier ist die Kamera sichtbar, das Foto – allein schon dessen Belichtung – dauert so lange, dass ein gewisses Einverständnis zwischen Fotografen und Fotografierten bestehen muss. Es gibt bei meinen Fotos ein paar Ausnahmen, aber eigentlich suche ich auch nach diesen gemeinsamen Inszenierungen, bei denen die Fotografierten zu Mitautoren einer “Bildwirklichkeit” werden.“

Ein besonders schönes (und überzeugendes) Beispiel der „Zusammenarbeit“ von Abgebildeten und Fotografen, ist das Foto der Kabuler Fahrradkuriere: „ Ich habe es gemeinsam mit meinem Freund Andreas Zierhut angefertigt, der selbst auch Fotograf ist (wir sind also beide gleichermaßen die Fotografen dieses Fotos!). Wir haben am Tag vor der Aufnahme einen Ort in Kabul gesucht, der unseren Vorstellungen entsprach und die nötige Weite für das Foto einer solch großen Gruppe hat. Die Fahrradkuriere trafen wir dann am nächsten Morgen. Die Aufstellung wurde in erster Linie nach fotografischen Gesichtspunkten gemacht. Was das Selbstverständnis der Fotografierten betrifft, schlug dann einer von ihnen vor, man solle doch die Hose an dem Bein hochkrempeln, wo sich die Prothese befindet, da man ja sonst gar nicht sehe, dass es Amputierte seien. OK – wir willigten ein, Andreas dirigierte die Männer in ihre endgültigen Positionen und ich machte die Aufnahmen. Also auch dieses Foto war kein Schnappschuss, sondern ist durch und durch inszeniert. Aber – und da sehe ich den entscheidenden Unterschied – es wurde im Einverständnis mit den Abgebildeten angefertigt.“

Das Einverständnis mit den Abgebildeten ist in der Tat entscheidend. Das merkt man dann am besten, wenn es an diesem Einverständnis fehlt. Als der Fotograf Walker Evans und der Autor James Agee in den 1930er Jahren, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, sich in den Süden der USA aufmachten, um die Lebensbedingungen der Baumwollfarmer zu dokumentieren, war ihr Ziel, die Realität so einzufangen, wie sie sich vor ihren Augen abspielte. Nichts sollte verändert, nichts zurecht gerückt, alles sollte genau so dokumentiert werden, wie sie es vorfanden. Fotografieren als meditativer Akt, als Bereit-Sein für Cartier-Bressons „moment décisif.“ Nur: wie der Fotograf Evans die Lebensumstände dieser Familien sah und wie diese Familien sich selber sahen, war, wie Rudolf Stumberger in „Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945“ schildert, dermassen verschieden, dass man — zugegeben, ich rede von mir — an der Idee der sozial engagierten Fotografie (die nicht auch die Wünsche der Abgebildeten mit einbezieht) ganz grundsätzlich zu zweifeln beginnt: „Evans fotografierte die Pächterfamilien in ihrer Alltagssituation, mit heruntergekommener Kleidung oder gar halbnackt, mit schmutzigen blossen Füssen, ungekämmt und unrasiert, und dokumentierte so auch die ökonomische Situation. Von der Familie Burroughs existiert allerdings auch ein Foto, das Evans in seinen Veröffentlichungen nicht benutzte: Es zeigt eine Familie gewaschen und gekämmt, in ordentlicher Kleidung und mit Schuhen und ist augenscheinlich auf den Wunsch der Familie hin zustande gekommen.“

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Wenn wir Fotos als Dokumente, als Informations- und als Erinnerungsstücke verstehen wollen, müssen wir, was sich unseren Augen zeigt, befragen. Wie, Wann, Wo, Warum, und für welchen Zweck sind diese Aufnahmen gemacht worden? Fragen müssen wir aber auch, was wir alles nicht zu sehen gekriegt haben, was gerade vor der Aufnahme passiert ist und was gerade nachher, und was uns alles nicht gezeigt worden ist.

PS: Die New York Times berichtete am 27. Juli 2008 über die Zensur von Fotos, die tote amerikanische Soldaten zeigen: Nach fünf Jahren Krieg im Irak und mehr als 4’000 toten amerikanischen Soldaten, sind weniger als ein halbes Dutzend solcher Fotos publiziert worden. Nicht weil, wie die New York Times meint, die Situation komplex ist (Rücksicht auf die Toten, die Angehörigen, die Kameraden sowie Sicherheitserwägungen), sondern weil, wenn man die Dinge so zeigen würde, wie sie in einem Krieg nun einmal sind, keine Kriege mehr würde führen können. „Mundus vult decipi“ nannten das die alten Römer: Die Welt will betrogen werden. Nicht nur, aber auch.

Glück im Unglück in Maceió

An meinem zweiten Tag in Maceió, das über einen mehrere Kilometer langen, von Palmen gesäumten Sandstrand verfügt, an dem sich viele bereits am frühen Morgen mit Jogging und Speed-Walking fit halten, spreche ich eine attraktive, mit einem sehr knappen Bikini bekleidete Frau an: Was denn hier, ausser an den tollen Strand zu gehen, zu tun sich lohne? Ich hatte sie, da des Portugiesischen nicht mächtig, auf Spanisch angesprochen. Ob ich Italienisch spreche?, fragt sie zurück. Verstehen ja, sprechen mit Mühe, antworte ich, worauf sie sagt, ihr gehe es mit Spanisch so. Wie es mit Englisch stehe?, denn das fiele ihr am leichtesten. Englisch also.

Sie redet Non-Stopp, eine gute Stunde lang, während wir nebeneinander den Strand entlang gehen. Dreiunddreissig sei sie, Mutter von drei Kindern, zehn Jahre sei sie mit einem sehr reichen Mann verheiratet gewesen, habe sich scheiden lassen, arbeite jetzt an ihrem Magister über Ökonomie und Umwelt, aus Maceío wolle sie weg, da kenne jeder jeden, da lasse man sich auch nicht scheiden, jedenfalls nicht von einem Mann aus solcher Familie, doch sie habe ihn nicht mehr geliebt, deshalb habe sie es getan. Hier werde ständig geratscht, da würden sich viele wieder den Mund zerreissen, dass sie jetzt mit einem Fremden am Strand entlang gehe, doch sie mache, was sie wolle, lasse sich nicht dreinreden, tue, was sie für richtig erachte.

Mir gefällt, an der Seite dieser schönen Frau gesehen zu werden, auch wenn ihre Offenheit nicht mir gilt und sie das, was sie umtreibt, sie sich von der Seele reden will, wohl jedem Fremden, der ihr zuzuhören gewillt, mitteilen würde. Dass sie es auf Englisch tun kann, macht es ihr wohl noch etwas leichter.

Wohin sie denn weg wolle? Sie habe mal in São Paulo gelebt, sei schon an vielen Orten gewesen, Paris vielleicht, obwohl, das sei dort sicher auch nicht mehr so wie es sie in Erinnerung habe. Und sicher werde sie Maceió auch vermissen, vor allem dieser Blick hier – sie zeigt auf das grünblaue Meer – , das ist doch das Paradies. Recht hat sie.

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Nichts bereitet mich an diesem Morgen im brasilianischen Paradies von Ponta Verde darauf vor, dass ich schon Stunden später in einer Ambulanz liegen und ins Spital gefahren werden sollte.

Am Nachmittag gehe ich auf dem Bürgersteig so dahin, als mir auf der Strasse ein Radler mit einem Korb voller Coca Cola Flaschen entgegenkommt. Plötzlich knallt es und irgendetwas schiesst an meiner linken Seite vorbei. Ich sehe – wie in Zeitlupe und als ob dies nicht wirklich sei, ich gar nicht beteiligt, sondern nur Zuschauer wäre – , dass an der Innenseite meines Oberarms ein kleines, dreieckiges Stück Fleisch weggerissen wird. Es schmerzt nicht, doch Blut spritzt nach allen Seiten, ich winkle den Arm an, trotzdem scheint die Blutung zuerst gar nicht zu stoppen, für einen kurzen Augenblick erfüllt mich hysterische Panik, durchfährt mich, ich werde hier auf der Strasse verbluten; es dauert mehrere Minuten bis ich den Blutstrahl stoppen kann

Was war geschehen? Eine Cola Flasche war wegen der Hitze geplatzt und ein Stück Glas, so vermutete ich, hatte mich getroffen.

Der junge Radler ist stehen geblieben, weiss aber nicht, was er tun soll; ein Passant ruft auf seinem Mobil-Telefon die Ambulanz. Tourist sei ich, schreit er in den Apparat. Woher?, ruft er mir zu. Aus der Schweiz, gibt er weiter.

Nach zwanzig Minuten, in denen ich mich, im Schatten an eine Mauer gelehnt, mit dem Mobil-Telefon Besitzer, einem jungen Verwaltungsjuristen, der in dieser Gegend arbeitet, im Infinitiv unterhalte, und dabei auch flüchtig daran denke, dass das alles bestimmt einen Haufen Geld kosten wird, trifft die Ambulanz ein. Die Wunde wird sofort gesäubert, ein Verband angelegt, Blutdruck und Puls werden genommen, meine Personalien aufnotiert.

Ich würde jetzt ins nächstgelegene Spital gebracht, wo die Wunde genäht werden müsse, teilt man mir mit. Ich bedanke mich bei meinem Helfer mit dem Mobil-Telefon, die Sirene wird eingeschaltet, ich lege mich auf die Bahre und los geht’s.

Die Fahrt dauert und dauert und ich wundere mich und frage: Wohin wir denn …?  Die Sanitäterin und der Sanitäter grinsen. In ein Spital hier in der Gegend, sagen sie. Und es dauert weiter. Nach etwa zwanzig Minuten erreichen wir das Spital, ein einstöckiges, von einem Eisentor gesichertes Gebäude. 

Vor Jahren hatte ich mich einmal in einem ganz ähnlichen Spital aufgehalten. In Malawi war das gewesen. Ich hatte einen Unfall verursacht gehabt und einer meiner Mitfahrer bedurfte ärztlicher Hilfe. Hier möchte ich nicht Patient sein, dachte ich damals, als ich mich im karg ausgerüsteten Spital umschaute. Doch jetzt, als ich mich selber in einem ganz ähnlichen Spital Patient bin, fühle ich mich gut aufgehoben.

Ich werde in einen Raum geführt, der mit einem Holztisch und zwei Stühlen ausgestattet ist. Ich setze mich auf den einen Stuhl, eine blonde, stämmige Frau in einem weissen Kittel sitzt auf dem andern Stuhl, zwischen uns steht der Holztisch. Eine Ärztin, nehme ich an, obwohl, man weiss ja nie.

Ob Sie Spanisch spreche?, frage ich. Englisch, sagt sie. Die Wunde müsse genäht werden, sie sei recht tief.

Sie fordert mich auf, einer andern Frau, einer Schwarzen, die ebenfalls einen weissen Kittel trägt, zu folgen. Im nächsten Raum werde ich angewiesen, mich hinzulegen. Es werde jetzt ganz kurz weh tun, eine lokale Betäubung sei nötig.

Wie das denn eigentlich passiert sei? Ich berichte.

Ob ich von einem Stück Glas oder Metall getroffen worden sei?

Ich wisse es nicht, mir scheine beides möglich. Und frage: Ob solches hier oft vorkomme, also so quasi eine brasilianische Spezialität sei?

Sie habe sowas zum ersten Mal gehört.

Ein paar Minuten dauert das Vernähen. Ob ich gegen Tetanus geimpft sei? Ich weiss es nicht. Okay, hier ist ein Rezept. Damit solle ich zu einer Apotheke und mich impfen lassen. In der Apotheke? Ja. Zudem: die Fäden müssten nach sieben Tagen wieder entfernt werden. Hier? In irgendeinem Spital.

Als ich mich wieder aufrichte, fragt die Ärztin, wie ich jetzt zurück zum Hotel komme?

Normalerweise gehe ich zu Fuss, antworte ich.

Das sei keine gute Idee, diese Gegend hier alles andere als sicher, ein Tourist zu Fuss ein gefundenes Fressen.

Als ich am Eingang aufs Taxi warte, wird mir klar, was sie meint. Das Eisentor am Eingang der Klinik wird von drei mit Gewehren bewaffneten Männern gesichert.

Am folgenden Tag treffe ich beim Frühstück auf ein Paar aus Rio. Der Mann erzählt mir, dass ihm vor Jahren bei einer Party was Ähnliches passiert sei: ein Splitter einer explodierenden Cola-Flasche traf ihn am Unterschenkel, doch die Wunde war nicht sehr tief und musste nicht genäht werden. Also doch eine brasilianische Spezialität, berstende Glasflaschen?

Eine Woche später gehe ich in João Pessoa, einer Stadt sechs Autobusstunden nördlich von Maceío, in ein staatliches Spital, um mir die Fäden rausnehmen zu lassen. Da ist kein Eisengitter und ich sehe auch keine Wache, als ich eintrete. Ich solle mitkommen, sagt die Krankenschwester am Empfang und führt mich in einen Behandlungsraum. Als ich meinen Rucksack neben der Liege, auf der ich Platz nehmen soll, auf den Boden stelle, sagt sie, nein, nicht da hin, auf die Liege drauf, der Boden sei verseucht.

Das Entfernen der Fäden dauert ein paar Minuten. Gott sei mit Ihnen, sagt die Schwester. Ich bin entlassen. Als ich das Spital verlasse, sehe ich, dass es da doch eine bewaffnete Wache gibt: ein älterer Mann, ledergegerbte Haut, Pistole im Gürtel, der wohl niemand abschrecken würde – andrerseits: man kann sich da leicht täuschen.

Für einen Schweizer (zugegeben, ich rede von mir) grenzt es ja schon an ein Wunder, dass es in einem tropischen Land eine funktionierende, ganz unaufgeregte Gesundheitsversorgung gibt. Dass man zudem weder für die Ambulanz, noch für das Vernähen der Wunde, noch für das Entfernen der Fäden etwas bezahlen muss, das ist dann schon mehr als ein Wunder, das ist dann schon fast nicht mehr wahr.