In Valparaiso und anderswo

Aufzeichnungen

Tag: Nietzsche

Vom Staunen

„Wir sehen die Gesichter der Leute, mit denen wir sprechen, weil wir mit ihnen kommunizieren und kooperieren müssen. Wir sehen nicht ihre mikrokosmischen Strukturen, ihre Zellen oder subzellulären Organellen, die Moleküle und Atome, die diese Zellen bilden. Wir sehen auch nicht den Makrokosmos, der sie umgibt; die Familienmitglieder und Freunde, die ihr unmittelbares soziales Umfeld bilden, die Ökonomien, die darin eingebettet sind, oder die Ökologie, die alle einschliesst. Letztlich, und gleichermassen wichtig, sehen wir sie nicht über die Zeiten hinweg, sondern im engen, unmittelbaren, dräuenden Jetzt. Nicht von all den Gestern und Morgen umgeben, die einen wichtigeren Teil von ihnen darstellen können als das, was gegenwärtig und offenkundig manifest ist. Und wir müssen sie auf diese Weise sehen, weil wir sonst überfordert wären“, schreibt Jordan B. Peterson in 12 Rules for Life (Ja, das ist der deutsche Titel!), Automatisch geht mir Nietzsche durch den Kopf, der in Jenseits von Gut und Böse geschrieben hat: „Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen.  oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein.“

Lasse ich die Bilder zu, die Petersons Text in meinem Kopf fabriziert haben, verliert das Leben seinen Schrecken und macht dem Staunen Platz. Darüber, was wir alles nicht sehen, obwohl es da ist. Und auch darüber, wie raffiniert uns unser Hirn täuscht und in die Irre führt. Das zu erkennen, befreit. Wie Desillusionierungen generell befreiend wirken, denn unsere Vorstellungen von der Welt, sind nie etwas anderes, als eine Gewohnheit zu denken und die befriedigt nicht jeden. Mich jedenfalls überzeugen unsere gängigen Welterklärungen nicht. Ich halte es mit Shakespeares „Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“

In Winzige Gefährten. Wie Mikroben uns eine umfassende Ansicht vom Leben vermitteln von Ed Yong lerne ich unter anderem dies: Mikroben sind Bakterien und andere Lebewesen, die nur mit dem Mikroskop zu sehen sind. Sie leben hauptsächlich auf und in unserem Körper. Mehrheitlich sind es Bakterien, doch es gibt auch Pilze sowie ganz viele Viren. Mit anderen Worten: Billionen von Mikroorganismen bevölkern unseren Körper.

War man vor einigen Jahren noch der Auffassung, Bakterien gehörten alle abgetötet, glaubt man heute tendenziell eher, Bakterien seien unsere Freunde und wollten uns helfen. Laut Ed Yong ist die erste Aussage genau so falsch wie die zweite. „Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass ein bestimmter Mikroorganismus ‘gut’ ist, nur weil er in uns lebt.“ Entscheidend ist – wie immer – der Zusammenhang. „Genau wie Unkraut eine Blume am falschen Platz ist, so sind auch unsere Mikroorganismen unter Umständen in einem Organ von unschätzbarem Wert, in einem anderen aber gefährlich, oder sie sind innerhalb unserer Zellen lebenswichtig und ausserhalb davon lebensbedrohlich.“

Mikroorganismen, das macht Ed Yongs Winzige Gefährten. Wie Mikroben uns eine umfassende Ansicht vom Leben vermitteln deutlich, sind allgegenwärtig und lebenswichtig. Sie formen unsere Organe, sie schützen uns vor Giften und Krankheiten, bauen unsere Nahrung ab, halten unsere Gesundheit aufrecht, regeln unser Immunsystem und steuern unser Verhalten.

Bedenkt man die Mikroorganismen mit, sieht die Welt ganz anders aus. Unsere Mitmenschen und auch die Tiere kommen uns dann wie eine Welt auf Beinen vor, „wie ein bewegliches Ökosystem, das mit anderen interagiert und sich seiner inneren Vielheiten in der Regel nicht bewusst ist.“

Eines der Phänomene, die Ed Yong aufführt, hat mich ganz speziell fasziniert: Bei unserer Geburt erben wir Gene von unserer Mutter und von unserem Vater. Die ererbten DNA-Stücke begleiten uns ein Leben lang, sie sind nicht austauschbar. Bakterien hingegen betreiben Gentransfer schon seit Jahrmilliarden. „Sie können DNA so leicht austauschen, wie wir es mit Telefonnummern, Geld oder Ideen tun. Sie legen sich einfach nebeneinander, stellen eine physische Verbindung her und schieben DNA-Stücke hindurch – das ist ihre Entsprechung zum Sex.“

Mir tun sich Welten auf, als ich das lese; ich staune immer mehr über das Mysterium des Lebens.

Werde der, der du bist

Schon mein ganzes Leben begleitet mich ein unterschwelliges Wut-Gefühl. Vielleicht, muss ich hinzufügen, denn wirklich wissen kann ich das nicht. Als Philosophen des ‚Vielleicht‘ habe sich Nietzsche immer wieder gerne bezeichnet, so Sue Prideaux in ihrer grandiosen Biografie dieses Zertrümmerers herkömmlicher Gewissheiten.

Das geht doch nicht, meldet sich eine der zahlreichen Stimmen in meinem Kopf. Sowas zu schreiben suggeriert doch, Du würdest Dich als Philosophen sehen, gar als einen Geistesbruder von Nietzsche? Und überhaupt: Ganz am Anfang eines Buches auf eine vielgepriesene Biografie Bezug nehmen, das geht gar nicht. Schreib von Dir! Zitiere nicht andere! Wenn Du das nicht kannst, dann lass es sein!

Genau so habe ich mich ein Leben lang in meine Schranken verwiesen. Mich braucht niemand zu zensurieren, ich tue es selber. Und selbst in meinem 66sten Altersjahr bin ich grösstenteils meinen Konditionierungen ausgeliefert. Doch das akzeptiere ich nicht mehr, ich will hochkommen lassen, was in mir lodert und heraus will. Es ist nicht nur nötig, es ist meine Pflicht, das weiss ich nicht nur, das spüre ich auch. Schwierig? Sowieso. Nietzsche soll übrigens von Pindars Werde der, der du bist geleitet worden sein. Es ist so recht eigentlich das Einzige, was mich interessiert. Und es ist mehr als schwierig und vielleicht unmöglich. Meine diesbezüglichen Anstrengungen haben sich als zermürbend erwiesen, doch wenn mich überhaupt etwas zu motivieren vermag, dann das. Bei allem Anderen steht die Sinnlosigkeit schon von Anfang an fest. „Jedes Mal, wenn man dachte, man hätte es geschnallt, zeigte einem die Welt eine lange Nase und wechselte auf ihre eigene Spur zurück, wurde wieder unergründlich.“ (James Sallis: Driver).

Kam ich mit schlechten Noten nach Hause, war klar, dass der Fehler bei mir lag und nicht am möglicherweise unfähigen Lehrer. Und da das häufig auch stimmte („Fauler Hund“, schmunzelte mein Vater immer mal wieder – und hatte meist nicht Unrecht), war ich auf dem besten Weg, mich nahtlos in die Gesellschaft zu integrieren. Die Schule lehrte mich, dass meine Meinung nicht zählte, konnte ich hingegen eine anerkannte Grösse (Goethe eignete sich immer) mit derselben Meinung zitieren, war das in den Augen der Lehrer natürlich etwas anderes.

Unter den Dingen, auf die ich beim Aufräumen stosse, befinden sich auch Fotos und Notizen von V. Sie litt unter einem Herzklappenfehler, wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde und betäubte sich mit Drogen. Sie berührte mich tief und natürlich wollte ich sie retten. Sie war 26 als sie auf der Strasse tot zusammenbrach.

Ich predigte ihr, es sei wichtig, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen (ich selber war weit entfernt davon). Als es ihr zuviel wurde, sagte sie: Also, wenn Du Verantwortung so toll findest, kannst Du die für mich gleich mit übernehmen.

Ich lege wahllos eine Kassette in den Recorder als ich die Bilder von ihr betrachte. Ein Film läuft in meinem Kopf ab – wie wir durch den meterhohen Schnee durch Zürichs Strassen stapften, im Zug nach München Koks schnupften und viel miteinander lachten – und plötzlich merke ich, dass die Musik, die aus den Lautsprechern tönt, aus der Zeit stammt, in der wir zusammen waren. Zufall? Höchstens in dem Sinn, dass uns fast alles ohne unser bewusstes Tun zufällt.

Ich habe V. gegooglet. Natürlich fand ich nichts – ihr Tod liegt 35 Jahre zurück – , doch ich stiess auf eine Frau mit demselben Namen, eine Amerikanerin, die ihr verblüffend ähnlich sah und 2019 im Alter von 60 Jahren gestorben ist (was in etwa dem heutigen Alter von V entspräche).

In alten Sachen zu wühlen ist mehr als nur eigenartig. Unwirklich trifft es besser. Je mehr ich ausgrabe, desto verwirrender erlebe ich mein Leben, je weniger verstehe ich es. Ein Brief von einem englischen AA-Freund, den ich kaum kannte, der mich in Durban erreichte – ich google ihn und stosse auf seine Todesanzeige. Auch C google ich, einen Kanadier chinesischer Abstammung, der mich in Quanzhou darüber aufklärte, dass in jeder meiner Klassen ein Regierungsspion sitze (es sei der, der verstehe, was ich sage). Auch ihn google ich, auch er ist vor zwei Jahren gestorben.

C und ich lasen beide gleichzeitig „Krieg und Frieden“ und als wir uns in der Folge darüber austauschten, stellten wir fest, dass wir genau die gleiche Stelle, in der Fürst Andrej verletzt auf dem Schlachtfeld liegt, am beeindruckendsten fanden: “Über ihm war nichts als der Himmel, der hohe Himmel, der zwar nicht klar, aber trotzdem unermesslich hoch schien. Graue Wolken glitten ruhig dahin. Wie still, wie ruhig, wie feierlich, dachte Fürst Andrej, gar nicht so, wie ich eben dahergestürmt bin, gar nicht so, wie wir rennen und schreien und kämpfen, und wie sich der Franzose und der Artillerist mit wütenden, entsetzten Gesichtern den Wischer zu entwinden suchten – ganz anders ziehen die Wolken über diesen hohen, unendlichen Himmel dahin. Wie kommt es, dass ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist eitel, alles ist Lug und Trug, ausser diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts ausser ihm … Und auch er ist wohl nicht … nichts ist … ausser der Stille … der Ruhe … Gott sei Dank!”

Aus: Hans Durrer: Gregors Geschichte (work in progress). 

Die Bedeutung des Gesprächs

Wenn ich Buchverlage um Besprechungsexemplare anfrage, lasse ich mich von meinen Interessen leiten und da diese mannigfaltig sind und ich selber masslos bin, laufe ich regelmässig Gefahr, von Bücherstapeln erschlagen zu werden, was mir übrigens schon vor vielen Jahren, ich war damals Anfang zwanzig, eine mittlerweile berühmte Schauspielerin prophezeit hat. Gelegentlich geschieht es auch, dass ein Rezensionsexemplar in meiner Post landet, um das ich mich gar nicht bemüht hatte und worauf ich selber wohl nicht gekommen wäre. Und manchmal ist das ein echter Glücksfall und von einem solchen soll hier die Rede sein.

Ernst Jünger
Gespräche im Weltstaat
Interviews und Dialoge 1929-1997
Hrsg. von Rainer Barbey und Thomas Petraschka
Klett-Cotta, Stuttgart 2019

Und so beginnt dieses Werk. „Ich glaube“, schreibt Ernst Jünger am 4. März 1920 an seinen Bruder Friedrich Georg, „dass im Gespräch unsere bedeutendste Leistung liegt; leider lässt sie keine Denkmäler zurück wie die Literatur oder Malerei. Immer werden die gesamten Elemente einer Zeit in unzähligen Gesprächen bis in ihre feinsten Einzelheiten durchdrungen, in Gebilden, die so leicht und unbestimmt sind wie die Wolken, und die doch alles Wasser in sich enthalten, das dann in Strömen die Mühlen treibt und die Schiffe trägt.“ Wie wahr!, durchfährt es mich. Und gleichzeitig: Wie eigenartig, dass mir dieser Gedanke noch nie gekommen ist!

Doch first things first: Ernst Jünger ist mir nur dem Namen nach geläufig. Ich weiss, dass er „In Stahlgewittern“ geschrieben hat und bei einigen als Kriegsverherrlicher gilt. Und auf einem meiner ungelesenen Stapel liegt sein „Annäherungen. Drogen und Rausch“. Mit anderen Worten: Ich gehe die Lektüre dieses Bandes fast gänzlich unbeschwert an und gebe hier einfach einige meiner Eindrücke dieser Interviews und Dialoge wieder, wobei mir der Kontext (welcher auch immer, jeder Kontext ist artifiziell und willkürlich) unwesentlich ist. Mich interessiert allein, ob etwas hilfreich für mein Leben ist. Jünger sagt es in einem Gespräch mit Julien Hervier so: „Kierkegaards Roman ‚Tagebuch des Verführers‘ hat mich sehr interessiert. Doch bei Kierkegaard, genau wie bei anderen, bei Baader und Hamann, schlendere ich gleichsam auf einer Wiese herum, pflücke manchmal eine Blume, die mir besonders gefällt, aber ich identifiziere mich nicht mit dem Ganzen.“

„Ich glaube, dass meine Bücher ein Teil von Deutschlands moralischem und geistigem Rüstzeug für den nächsten Krieg sind“, verlautbarte Jünger 1929, im Alter von 34 Jahren. An Selbstbewusstsein fehlte es dem Mann offenbar nicht. Krieg findet er notwendig und hat „das grösste Vergnügen an einem Kampf um die Macht, wo auch immer er stattfindet und egal wer gewinnt.“ Mir ist das fremd und „dass ein Mann höchsten Wert erlangen könne, wenn er sich freiwillig opfere“ finde ich eine ganz furchtbare Haltung. Dass Jünger hingegen nach Goslar gezogen ist, weil er da die Möglichkeit weiter Spaziergänge hat, sagt mir sehr zu. „Ich muss in einer Landschaft spazierengehen können, die den Menschen weder vergewaltigen noch erdrücken.“ Eine hellsichtige Bemerkung!

Ich lese mal hier und mal dort rein und bin höchst angetan von der Gedankenschärfe dieses Mannes, seiner Fähigkeit, Wesentliches herauszuschälen. In einem Gespräch mit Jacques Le Rider aus dem Jahre 1982 bezeichnet er die neuen mechanischen Uhren als eine der wichtigsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. „Diese Uhren erweitern ihren Machtbereich und werden immer furchterregender, sie sind es, die die modernen Waffen einstellen, steuern und zur Explosion bringen. Sie messen die Zeit nicht, sie stellen sie her. Sie erlauben dem Menschen nicht, die Zeit zu beherrschen, sondern unterwerfen ihn ihrem Automatismus.“ Es ist dem Menschen eigen, die Auswirkungen seiner Erfindungen nicht abschätzen zu können. Obwohl: Er könnte mittlerweile wissen, dass sich vieles, das er einstmals als nützlich empfand, sich gegen ihn wendet. Mehr noch: in seinem Bestreben, sich von Zwängen frei zu machen, schafft er neue, schlimmere. Und wird zum Sklaven. Man denke etwa an Handys.

Auch seine patente und gescheite Frau, Liselotte Jünger, wird gelegentlich ins Gespräch einbezogen. „Der Gauleiter von Hannover, wie hiess er doch, Liselotte?“ fragt ihr Mann einmal. Worauf sie antwortete: „Keine Ahnung, damals kannten wir uns noch nicht.“

Auf André Müllers Frage, was ihm Hoffnung mache, antwortet Jünger, 1989 war das: „Ich studiere den Mythos, und da erfährt man, dass der Titanismus, in dem wir uns augenblicklich befinden, immer gescheitert ist. Nietzsches Übermensch hat versagt. Ich setze auf den musischen Menschen, auf die Verbindung zum Göttlichen überhaupt.“ Es ist diese Fähigkeit zur Distanznahme, die das Leben als eine Art Schauspiel betrachtet, die den Büchermenschen („Ich bin auch nur von Büchern umgeben, und diese Bücher, die lassen sich ja auf vierundzwanzig Buchstaben zurückführen, und diese vierundzwanzig Buchstaben erzeugen auch ein gewisses Medium. Man fühlt sich doch zu Hause, wenn man von Büchern umgeben ist.“) Ernst Jünger, der auch von Insekten sowie von Betrachtungen zu Ordnungsvorgängen fasziniert ist, unter anderem auszeichnet.

Ganz besonders die Ausführungen zur Natur haben mich angesprochen. „Das Verhältnis zur Natur ist heute nicht nur für mich, sondern auch für viele andere Menschen eine Leidensbeziehung. Die Urwälder des Amazonas werden zerstört, die Meere werden überfischt, die Atmosphäre, nun man sieht ja, in welchem Zustand sie ist; mit einem Wort, wir gehen direkt gegen die Elemente an.“ Und seine Überlegungen zu Drogen. „Alkohol ist die Droge für die Armen, das, was Bibliotheken und Museen für die anderen sind. Einen kurzen Augenblick ahnt man das Unbegrenzte.“ Er glaubt auch an ein Weiterleben nach dem Tod. „Bei einer gewissen geistigen Höhe ist das eigentlich für jeden so.“

Gespräche im Weltstaat ist ein Buch reich an Lebensweisheiten – „Man kann Dummheiten begehen, die niemals wiedergutzumachen sind. Dagegen kann aber auch eine glückliche Begegnung über das ganze Leben entscheiden.“ – , ein Buch, das vielfältig anregt und sich nicht zuletzt zur Aufgabe des Schriftstellers äussert, der politisch keinen Anstoss, sondern ein Beispiel geben soll. „Ich sage gerne, dass ich es vorziehe, eine Landschaft zu zeichnen, als die Rolle des Wegweisers zu spielen.“

PS: Bei der Beschäftigung mit diesem Buch bin ich auch (Zufälle gibt es ja nicht, ausser im eigentlichen Sinne des Wortes: Was einem zu fällt) auf ein Zitat aus Jüngers Tagebuch Siebzig verweht gestossen, das ich ganz wunderbar beobachtet finde. Sylvain Tesson gibt es in In den Wäldern Sibiriens wieder: „Je weniger wir auf die Unterschiede achten, desto stärker wird die Ahnung; wir hören nicht mehr den Baum rauschen, sondern den Wald, der dem Wind antwortet.“

Empirie und Mythologie

Jordan B. Petersons Warum wir denken, was wir denken. Wie unsere Überzeugungen und Mythen entstehen (mvgverlag, München 2019) ist ein Wälzer von insgesamt 670 Seiten mit derart vielen Wörtern auf einer Seite, dass bei einem gängigen Satzspiegel locker die doppelte Seitenanzahl zustande gekommen wäre. Die Zeiten, in denen mein Bildungshunger mich dazu verleitet hat, solch monumentale Werke von Anfang bis Ende zu studieren, sind längst vorbei – ich verstehe heute beim besten Willen nicht mehr, weshalb eine Grundüberzeugung, die in der Regel auf ein paar simplen Gedanken beruht, dermassen ausufernd dargestellt werden muss und so blättere ich mich durchs Buch, lese hier und da rein und mich auch immer mal wieder fest, meist bei langen Zitaten von Tolstoi, Dostojewski, Nietzsche und C.G. Jung.

Keine Frage, diesem Werk werde ich damit in keinster Weise gerecht. Doch das ist auch gar nicht mein Ziel. Mir geht es vielmehr darum, Petersons Haltung und Denkweise, die mir bereits aus 12 Rules for Life bekannt ist, in einem nochmals anderen Licht zu sehen. Und werde bereits beim Vorwort fündig. Jordan Peterson ist ein Suchender, der weder in der Religion noch in der Vorstellung von einer gerechteren Welt Trost findet. „Mein Glaube an die Ideologie schwand, als ich zu verstehen begann, dass die Identifikation mit einer Ideologie selbst ein schwerwiegendes und mysteriöses Problem darstellt.“

Ich will zwei Aspekte herausgreifen, weil ich sie für mich und mein praktisches Leben als nützlich erachte – das Primat des Handelns und die Frage von Empirie und Mythologie.

Zum Handeln führt Peterson aus: „Wir handeln angemessen, bevor wir verstehen, wie wir handeln – genauso wie Kinder lernen, sich zu benehmen, bevor sie die Gründe für ihr Verhalten nennen können. Erst durch die Beobachtung unserer über Jahrhunderte angesammelten und ‚destillierten‘ Verhaltensweisen verstehen wir unsere eigenen Motivationen und die Verhaltensmuster, die unsere Kulturen prägen (und die sich im Laufe der Zeit durch unser Tun verändern) … Zuerst handeln wir. Danach vergegenwärtigen wir uns das Muster, das unsere Handlungen darstellt. Dann lassen wir uns in unserem Handeln von diesem Muster leiten.“

Man muss diese Überlegung einmal richtig in sich einsinken lassen. Erst dann (zugegeben, ich spreche von mir) wird einem ihre Tragweite klar. Das Handeln kommt zuerst, die Gründe für dieses Handeln schieben wir nach. Das bedeutet unter anderem, dass man sich in ein gesundes Denken hinein handeln kann. Also: Nicht auf den richtigen Moment warten, sondern den richtigen Moment herbeiführen.

Zur Empirie und Mythologie: Von allen Kulturen beruft sich allein die westliche auf die Empirie. Alle anderen haben keine auf ‚objektiven Ereignissen‘ basierende Geschichte, sondern sind mythologischer Natur, beschreiben also „mittels psychologischer Begriffe, was für eine Bedeutung ein Ereignis hat, und nicht mittels empirischer Begriffe, wie sich das Ereignis abgespielt hat.“

Nietzsche sieht es so: „Jede Zeit hat ihre eigne göttliche Art von Naivität, um deren Erfindung sie andere Zeitalter beneiden dürfen – und wie viel Naivität, verehrungswürdige, kindliche liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen, schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen als einen minderwertigen und niedrigeren Typus behandelt, über den er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist – er, der kleine anmassliche Zwerg und Pobelmann, der fleissig-flinke Kopf- und Handarbeiter der ‚Ideen‘, der ‚modernen Ideen‘.“

Obwohl die von Empirie geprägte westliche Weltsicht sich der mythologischen überlegen wähnt, ja, auf diese hinunter schaut, ist es dennoch so, „dass die gesamte Ethik des Westens, einschliesslich der in den westlichen Gesetzen explizit formulierten, auf einer mythologischen Weltsicht basiert, die dem Individuum einen göttlichen Status spezifisch zuweist. Das moderne Individuum befindet sich deshalb in einer erstaunlichen Position: Es glaubt nicht mehr an die Prinzipien, auf denen sein ganzes Verhalten gründet. Man könnte darin einen zweiten Sündenfall sehen, der in der Zerstörung der westlichen mythologischen Barriere besteht, wodurch die zentrale Tragödie der individuellen Existenz wieder sichtbar wurde.“

Der ausschliessliche Glaube an empirische Fakten hat zur Zurückweisung moralischer Wahrheiten geführt. „Aus objektiver Perspektive ist der Mensch ein Tier, dem keine grössere Bedeutung zuzumessen ist, als es die momentane Meinung und Situation eben vorgibt. Aus mythischer Sicht dagegen ist jedes Individuum einzigartig und stellt ein neues Set von Erfahrungen, ein neues Universum dar. Es hat die Fähigkeit, etwas Neues ins Dasein zu bringen und am Akt der Schöpfung selbst teilzuhaben. Es ist der Ausdruck dieser schöpferischen Fähigkeit, durch den die tragischen Bedingungen des Lebens nicht nur erträglich werden, sondern auch bemerkenswert und wunderbar.“

Das setzt voraus – und dafür plädiert Peterson – , seine persönliche Verantwortlichkeit (und damit das Göttliche im Menschen) anzuerkennen. „Diese Verantwortlichkeit bedeutet, sowohl die Prüfungen und Schwierigkeiten, die mit dem Ausdruck der eigenen Individualität verknüpft sind, anzunehmen als auch diesen Ausdruck bei anderen zu respektieren. Unabdingbar dafür ist Mut in Abwesenheit von Sicherheit und Disziplin auch bei den unscheinbarsten Angelegenheiten.“

Warum wir denken, was wir denken. Wie unsere Überzeugungen und Mythen entstehen ist eine differenzierte, engagierte, anregende und echt hilfreiche Auseinandersetzung mit den Grundfragen unserer Existenz.

Lichte Momente

“Wear the world as a loose garment, which touches us in a few places and there lightly.“  Dieser Satz – er wird Franz von Assisi zugeschrieben – begleitet mich seit einigen Wochen recht intensiv und er geht mir auch während der Lektüre von Otto A. Böhmers schönem Buch Lichte Momente (DVA, München 2018) immer wieder durch den Kopf, denn dem Autor gelingt es, Philosophischem, dem meist Schweres und Schwieriges anhaftet, eine Leichtigkeit zu verleihen, die sowohl Herz wie auch Geist erfreut. Mein Blick auf den elitären und rechthaberischen Platon ist jedenfalls ab sofort wesentlich von diesen Sätzen geprägt: „Er galt nicht gerade als Erfinder des Frohsinns. Diogenes Laertius wusste zu berichten, dass der Philosoph in seinem ganzen Leben nie beim Lachen ertappt worden sei.“

„Wer in der Lage ist, sein Leben wie ein wohlwollender Beobachter zu betrachten, wird feststellen, dass es immer wieder Phasen des Neubeginns gibt, die, zumindest in der nachträglichen Wertung, als eminent wichtig erscheinen und einer Läuterung gleichkommen. Man ist sich fast sicher, dass eine andere Zeit begonnen hat – eine Zeit des fantastischen Gelingens, die auch mit Fehlschlägen auskommen kann.“ Diese lichten Momente – es muss betont werden – erschliessen sich einem so recht eigentlich erst im Nachhinein. Brigitte Kronauer formuliert es so: „Es gibt im glücklichsten Fall einen Kurzschluss wie in der Liebe zwischen zwei Individuen, die bisher ganz gut ohne einander ausgekommen sind und sich auf einmal fragen, wie sie das so lange geschafft haben. Noch in den scheinbar beliebigsten Abschweifungen und düstersten Assoziationen spüren wir eine Bezauberung, eine Zuversicht, die Fatalität des Lebens durch deren Formulierung besiegen zu können.“

Augustinus, Dante, Voltaire, Hume, Diderot, Nietzsche und Tschechow kommen unter anderen zu Wort, dreissig Dichter und Denker sind es insgesamt, von deren Lebens- und Werkgeschichten der geistreiche und humorbegabte Otto A. Böhmer berichtet. Die Augenblicke der Inspiration sind jedoch – entgegen dem Lichte Momente versprechenden Titel – nicht zentral, vielmehr sind es höchst aufschlussreiche Anekdoten und Zitate, die diesen Band zu einem Lesevergnügen machen. So schreibt er etwa von Sokrates: „Er schien nichts anderes zu tun zu haben, als seine Mitbürger in lästige Grundsatzgespräche zu verwickeln.“ Und seinen Text über Lessing leitet er wie folgt ein: „Es ist nicht einfach für einen Dichter, einfach zu schreiben; das Komplizierte macht mehr her. Von einem Dichter, der dunkle Satzgebilde strickt, nimmt man an, dass er schlauer sein könnte als andere, gerade weil man ihn nicht recht versteht. Wer einfach schreibt, muss zudem mutig sein: Er lehnt sich weit aus dem Fenster, alles, was er sagt, kann gegen ihn verwendet werden.“

Otto A. Böhmer promovierte über Fichte, über den er unter anderem zu berichten weiss, dass er mittellos bei Kant vorstellig wurde, der allerdings auf den Besuch eher reserviert reagierte. „Der Königsberger Philosoph war nicht mehr der jüngste; er hatte sein Lebenswerk nahezu beendet und wurde zum Dank dafür von allerlei Altersmalaisen geplagt.“ Wunderbar, wie des Autors feine Ironie die zuweilen abstrakt formulierenden und abgehobenen Philosophen ins richtige Leben zurückholt. Wie übrigens auch den Schriftsteller Thomas Mann, der „sich am liebsten über bedeutende Themen Gedanken“ machte; „es konnte daher nicht ausbleiben, dass er sich auch gern mit sich selbst beschäftigte.“

Unter den Dichtern und Denkern hat man so seine Favoriten. Zu den meinen gehören Henry David Thoreau, über den Nathaniel Hawthornes Fazit lautete: „… ein gedankenreicher und origineller Mensch, mit einer gewissen Starrheit in seinem Charakter, die an einen eisernen Schürhaken erinnert und interessant ist, aber bei näherem und häufigem Umgang ziemlich ermüdend wirkt.“ Ein ganz wunderbarer Fund! So habe ich über Thoreau noch nie gelesen. Am Rande: Die vielfältigen Funde (auch das Finden ist eine Kunst) allein machen dieses Buch für mich zu einem Muss!

Die grösste Entdeckung in diesem Buch der Entdeckungen war für mich Cioran, natürlich auch deswegen, weil mir ausser seinem Namen und seiner rumänischen Herkunft so recht eigentlich nichts von ihm bekannt war, der mit gerade einundzwanzig Jahren schrieb: „Ich habe damals Philosophie studiert, ganz ernsthaft. Philosophie ist sehr gefährlich für junge Leute, man wird dünkelhaft, man  bläht sich auf, man ist unglaublich von sich selbst eingenommen. Die Philosophiestudenten sind eigentlich unerträglich, überheblich, von einer provozierenden Eitelkeit …“. Als er mit 26 Jahren nach Paris ging, kommentiert Otto A. Böhmer das so: „Als Philosoph mochte sich Cioran noch immer nicht sehen, eher als ‚missglückten Buddhisten‘. An der Philosophie störte ihn ihr ausgeprägter Ordnungssinn, ein fast beamtenhaftes Bemühen das Chaos der Weltläufigkeit in Regelwerke zu kleiden, die nicht haltbarer sein konnten als die vom regen Zerfall bedrohten Körper ihrer Urheber.“ Solcher Sätze (und Erkenntnisse) wegen lese ich Bücher. Und wegen dieser hilfreichen Einsicht Ciorans: „Schreiben ist die einzige Behandlung, wenn man keine Arzneien nimmt. Dann muss man schreiben. Auch der Akt des Schreibens allein ist eine Genesung. … Formulieren ist Heilung, auch wenn man Unsinn  schreibt, auch wenn man kein Talent hat ..“.

Sich der Realität stellen

Seit ich Jordan B. Petersons 12 Rules for Life (das ist der deutsche Titel!) gelesen habe, verfolgt mich ein Gedanke aus diesem Buch, der mich, so vermute ich, wohl deswegen nicht loslässt, weil er viel von dem bestätigt, das ich selber glaube, nur eben: Peterson formuliert es so, dass ich jetzt ein Bild im Kopf habe und dieses, wie das Bilder so an sich haben, Emotionen transportiert, das bisher nur Gedachte also emotional vernetzt.

„Man is made by his belief. As he believes, so he is“, heisst es in der Bhagavad Gita. Anders gesagt: Wir haben uns die Realität erfunden, sie ist eine Fiktion und gleichzeitig sehr real, wir alle erleben das, wenn wir zum Beispiel Zahnweh haben. Zudem haben wir das uns umgebende Chaos auf uns Verständliches reduziert; das ist notwendig und praktisch. „Wir nehmen es als gegeben hin, dass wir Objekte und Dinge sehen, wenn wir die Welt anschauen. Aber das ist nicht wirklich so. Unsere Wahrnehmungssysteme haben sich derart entwickelt, dass sie die komplexe, vielschichtige Welt, in der wir zu Hause sind, nicht so sehr in Dinge an sich umsetzen, sondern in Dinge, die nützlich sind (oder in ihre Widersacher, in Dinge, die einen behindern).“ Wir sehen also nützliche Werkzeuge und Hindernisse, wir sehen nicht Objekte oder Dinge, denen wir dann Eigenschaften zuschreiben.

„Wir sehen die Gesichter der Leute, mit denen wir sprechen, weil wir mit ihnen kommunizieren und kooperieren müssen. Wir sehen nicht ihre mikroskosmischen Strukturen, ihre Zellen oder subzellulären Organellen, die Moleküle und Atome, die diese Zellen bilden. Wir sehen auch nicht den Makrokosmos, der sie umgibt: die Familienmitglieder und Freunde, die ihr unmittelbares soziales Umfeld bilden, die Ökonomien, die darin eingebettet sind, oder die Ökologie, die alle einschliesst. Letztlich, und gleichermassen wichtig, sehen wir sie nicht über die Zeiten hinweg, sondern im engen, unmittelbaren, dräuenden Jetzt. Nicht von all den Gestern und Morgen umgeben, die einen wichtigeren Teil von ihnen darstellen können als das, was gegenwärtig und offenkundig manifest ist. Und wir müssen sie auf diese Welt sehen, weil wir sonst überfordert wären.“

Genaues Hinschauen verändert nicht nur meine Wahrnehmung, genaues Hinschauen verändert so recht eigentlich alles. Denn genaues Hinschauen bedeutet, Vertrautes neu zu sehen – und das ist die Voraussetzung dafür, die Welt neu zu erleben. Mir ist das Bedürfnis und Notwendigkeit, denn mich überzeugen weder die Verheissungen „unseres“ Gesellschaftssystems noch die Erklärungsmodelle der Religionen. Auch sich mit irgendeiner Sucht zu betäuben  –  Alkohol, Drogen, Geld, Karriere, Anerkennung, you name it  – , ist für mich nicht drin.

Je genauer wir hinschauen, je mehr wir uns der Realität stellen, desto mehr staunen wir. Jedenfalls geht es mir so. Ich staune zum Beispiel darüber, dass es angesichts des menschlichen Schicksals (wir wissen nicht, woher wir kommen, haben keine Ahnung, was wir hier sollen, wissen nicht, was nach unseren Tod geschieht) nicht durchdrehen. „Wir sind zerbrechliche Geschöpfe. Alles Mögliche kann schiefgehen, auf tausenderlei Weise. Eigentlich müssten wir permanent Angst haben. Haben wir aber nicht.“  Es ist ein Wunder.

Genaues Hinsehen erfordert Mut und das Überwinden der eigenen Trägheit. Und ist ein gutes Rezept, um Illusionen zu verlieren. Der Wert eines Menschen, meinte Nietzsche, werde dadurch bestimmt, wieviel Wahrheit er ertragen könne.

Vom Unbewussten und der Freiheit

Ich komme gerade vom Supermarkt zurück. Die Kassiererin hat der Frau, die vor mir an der Reihe war, ausführlich Sachen erklärt, die diese weder gefragt, noch hatte wissen wollen. Den ihr angebotenen Prospekt lehnte sie ab, der Erklärung, wie man online bestellen könne, hörte sie nicht zu. Ich wurde ungeduldig, regte mich auf. Kann diese doofe Kassiererin nicht ganz einfach machen, wofür sie eingestellt wurde, also die Kasse bedienen?

Als mir diese Gedanken durch den Kopf schiessen und ich mir schon ernsthaft überlege, auf meinen Einkauf zu verzichten und davon zu laufen, kommt mir die Supermarkt-Geschichte von David Foster Wallace in den Sinn. Der Teil der Geschichte, auf den es mir ankommt, geht so: David kommt nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause und weil er vergessen hat einzukaufen, muss er nochmals raus und zum Supermarkt. Er ist nicht der Einzige, die Strassen sind voll, der Supermarkt ebenso und die Schlange an der Kasse ist lang. Er ist müde und erschöpft, will bloss endlich nach Hause kommen. Alles stört ihn, alle gehen ihm auf die Nerven, Warum dauert das bloss so lange? Kann die blöde Kuh an der Kasse nicht schneller machen? Und all diese Leute, wie hässlich und dämlich die alle aussehen. Und wie primitiv und unhöflich ist es doch, in der Schlange lauthals ins Handy zu sprechen. Und überhaupt: Können die eigentlich nicht tagsüber einkaufen gehen?

Foster Wallace bezeichnet ein solches Denken als seine angeborene Standardeinstellung. Es ist kein bewusstes Denken, es geschieht völlig automatisch und geht davon aus, dass man selber der Mittelpunkt der Welt ist und seine unmittelbaren Bedürfnisse und Gefühle Priorität haben sollten.

Keine Frage, wir werden vom Unbewussten regiert. Auch natürlich, weil wir zu viel Bewusstsein wohl kaum aushalten würden, denn dauernd sich bewusst zu sein, dass man jeden Moment sterben kann, wäre kaum auszuhalten. Und so lenken wir uns lieber ab. „Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein“, notierte Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“.

Andrerseits wird uns verheissen, die Wahrheit mache uns frei. Nur eben: Frei sein wollen wir alle nicht, obwohl wir das Gegenteil behaupten, sonst würden wir ja nicht in erster Linie Sicherheit suchen. Dostojewskij hat mich darauf gebracht. In seinem „Grossinquisitor“ (einem Kapitel aus „Die Brüder Karamasow“) kehrt Christus auf die Erde zurück, und zwar ins Spanien der Inquisition, wo er belehrt wird, dass die Freiheit, die er den Menschen hat bringen wollen, diese nur unglücklich und verzweifelt gemacht habe, „denn nichts ist jemals für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit.“ Und: „Aber wisse, dass jetzt und gerade heutzutage diese Menschen mehr als je davon überzeugt sind, vollkommen frei zu sein; und dabei haben sie selbst uns ihre Freiheit dargebracht und sie uns gehorsam zu Füssen gelegt.“

Aus: Hans Durrer: Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung. neobooks 2017.