Vom Staunen

von hansdurrer

„Wir sehen die Gesichter der Leute, mit denen wir sprechen, weil wir mit ihnen kommunizieren und kooperieren müssen. Wir sehen nicht ihre mikrokosmischen Strukturen, ihre Zellen oder subzellulären Organellen, die Moleküle und Atome, die diese Zellen bilden. Wir sehen auch nicht den Makrokosmos, der sie umgibt; die Familienmitglieder und Freunde, die ihr unmittelbares soziales Umfeld bilden, die Ökonomien, die darin eingebettet sind, oder die Ökologie, die alle einschliesst. Letztlich, und gleichermassen wichtig, sehen wir sie nicht über die Zeiten hinweg, sondern im engen, unmittelbaren, dräuenden Jetzt. Nicht von all den Gestern und Morgen umgeben, die einen wichtigeren Teil von ihnen darstellen können als das, was gegenwärtig und offenkundig manifest ist. Und wir müssen sie auf diese Weise sehen, weil wir sonst überfordert wären“, schreibt Jordan B. Peterson in 12 Rules for Life (Ja, das ist der deutsche Titel!), Automatisch geht mir Nietzsche durch den Kopf, der in Jenseits von Gut und Böse geschrieben hat: „Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen.  oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein.“

Lasse ich die Bilder zu, die Petersons Text in meinem Kopf fabriziert haben, verliert das Leben seinen Schrecken und macht dem Staunen Platz. Darüber, was wir alles nicht sehen, obwohl es da ist. Und auch darüber, wie raffiniert uns unser Hirn täuscht und in die Irre führt. Das zu erkennen, befreit. Wie Desillusionierungen generell befreiend wirken, denn unsere Vorstellungen von der Welt, sind nie etwas anderes, als eine Gewohnheit zu denken und die befriedigt nicht jeden. Mich jedenfalls überzeugen unsere gängigen Welterklärungen nicht. Ich halte es mit Shakespeares „Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“

In Winzige Gefährten. Wie Mikroben uns eine umfassende Ansicht vom Leben vermitteln von Ed Yong lerne ich unter anderem dies: Mikroben sind Bakterien und andere Lebewesen, die nur mit dem Mikroskop zu sehen sind. Sie leben hauptsächlich auf und in unserem Körper. Mehrheitlich sind es Bakterien, doch es gibt auch Pilze sowie ganz viele Viren. Mit anderen Worten: Billionen von Mikroorganismen bevölkern unseren Körper.

War man vor einigen Jahren noch der Auffassung, Bakterien gehörten alle abgetötet, glaubt man heute tendenziell eher, Bakterien seien unsere Freunde und wollten uns helfen. Laut Ed Yong ist die erste Aussage genau so falsch wie die zweite. „Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass ein bestimmter Mikroorganismus ‘gut’ ist, nur weil er in uns lebt.“ Entscheidend ist – wie immer – der Zusammenhang. „Genau wie Unkraut eine Blume am falschen Platz ist, so sind auch unsere Mikroorganismen unter Umständen in einem Organ von unschätzbarem Wert, in einem anderen aber gefährlich, oder sie sind innerhalb unserer Zellen lebenswichtig und ausserhalb davon lebensbedrohlich.“

Mikroorganismen, das macht Ed Yongs Winzige Gefährten. Wie Mikroben uns eine umfassende Ansicht vom Leben vermitteln deutlich, sind allgegenwärtig und lebenswichtig. Sie formen unsere Organe, sie schützen uns vor Giften und Krankheiten, bauen unsere Nahrung ab, halten unsere Gesundheit aufrecht, regeln unser Immunsystem und steuern unser Verhalten.

Bedenkt man die Mikroorganismen mit, sieht die Welt ganz anders aus. Unsere Mitmenschen und auch die Tiere kommen uns dann wie eine Welt auf Beinen vor, „wie ein bewegliches Ökosystem, das mit anderen interagiert und sich seiner inneren Vielheiten in der Regel nicht bewusst ist.“

Eines der Phänomene, die Ed Yong aufführt, hat mich ganz speziell fasziniert: Bei unserer Geburt erben wir Gene von unserer Mutter und von unserem Vater. Die ererbten DNA-Stücke begleiten uns ein Leben lang, sie sind nicht austauschbar. Bakterien hingegen betreiben Gentransfer schon seit Jahrmilliarden. „Sie können DNA so leicht austauschen, wie wir es mit Telefonnummern, Geld oder Ideen tun. Sie legen sich einfach nebeneinander, stellen eine physische Verbindung her und schieben DNA-Stücke hindurch – das ist ihre Entsprechung zum Sex.“

Mir tun sich Welten auf, als ich das lese; ich staune immer mehr über das Mysterium des Lebens.